Heutzutage begegnen wir dem Wort „Achtsamkeit“ auf Schritt und Tritt. Es ist fast schon zum Trend geworden. Dabei wissen die Wenigsten, dass dieser Begriff ebenso wie das „Hier und Jetzt“ erst mit dem Zen-Buddhismus vor nicht allzu langer Zeit zu uns in den Westen gekommen ist. Im Zen wird das Wort Achtsamkeit häufig so gebraucht, dass man achtsam gegenüber der Tätigkeit sein soll, die man gerade verrichtet. Ich bin ganz im Gehen oder ich bin achtsam in der Arbeit, beim Hoffegen, Fensterputzen oder beim Zuhören.
Manche Zen-Lehrer empfehlen achtsamkeitsbewussten Menschen beispielsweise, einzelne Stellen in ihrem Büro mit einem roten Punkt zu markieren, die sie quasi immer wieder daran erinnern, in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren. Wenn sie auf die Klinke mit dem roten Punkt greifen, halten sie inne und spüren den Moment. Bevor sie zum Telefon greifen, halten sie inne. Jedoch innehalten und aufmerksam sein wollen ist zwar ein erster Schritt in Richtung „vollkommene Achtsamkeit“, aber es ist eben nur der Anfang.
Denn im Zen geht es NICHT darum, willentlich in den Moment zu kommen. Willentliche Achtsamkeit mag eine gute Übung sein, aber es ist nicht Zen, wie es von China über Japan zu uns gekommen ist. Zen ist der Weg, jegliche Dualität zu überwinden. Sobald wir denken: „Ich gehe achtsam“, beinhaltet dies die Dualität zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen dem Geist und dem Körper, der diese Tätigkeit ausführt.
Hätten wir den alten Zen-Meister Rinzai (9. Jahrhundert) gefragt: „Was ist Achtsamkeit?“, dann hätten wir 30 Stockhiebe eingesteckt, eine bewährte chinesische Methode, um in den Moment zu kommen. Da haben keine Gedanken mehr Platz. Kein Denken an Achtsamkeit.
Was ist nun ‚Achtsamkeit’ im Zen? Jede Übung hat den Zweck, die Dualität zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Körper und Geist zu überwinden und damit ganzheitlich in den Moment zu kommen. Das beginnt beim Meditieren im Sitzen, bei dem die Gedanken durch die Konzentration auf den Atem weniger werden, im Gehen und in allen anderen Verrichtungen. Da setzt man seinen ganzen Körper und seine volle Kraft und Konzentration ein, um mit dem Putzen, Fegen und Kochen eins zu werden.
Was damit gemeint ist, soll folgender Dialog zeigen.
Ein Zen-Schüler fragt seinen Meister: „Was unterscheidet den Zen-Meister von einem Zen-Schüler?“ Der Meister antwortet: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.“ „Wieso? Das mache ich doch auch.“ Der Zen-Meister antwortet: „Wenn du gehst, denkst du ans Essen und wenn du isst, dann denkst du ans Schlafen. Wenn du schlafen sollst, denkst du an alles Mögliche. Das ist der Unterschied.“
Achtsamkeit bedeutet, sich bewusst zu sein, was geschieht, im Gegensatz zu einem halbbewussten Vorbeiziehenlassen der Ereignisse oder einem so intensiven Überwältigtsein von den Geschehnissen, dass man reagiert, bevor man Zeit zum Nachdenken hat. Achtsamkeit konzentriert sich vollkommen auf die spezifischen Bedingungen der Erfahrungen, die wir tagein, tagaus machen. Achtsamkeit im Zen befasst sich nicht mit irgendetwas Transzendentem oder Göttlichem. Sie ist ein wirksames Heilmittel gegen sentimeniale Frömmelei.
In der Achtamkeitspraxis geht es neben dem bewussten Erfüllen unserer täglichen Aufgaben auch darum, eine neue Beziehung zwischen Vergänglichkeit und Leben einzugehen. Anstatt der Vergangenheit nachzuhängen und über die Zukunft zu spekulieren, sollte man die Gegenwart als die Frucht all dessen erkennen, was gewesen ist, und als den Samen dessen, was einmal sein wird.
Buddha hat seinerzeit nicht einen Rückzug aus dem geschäftigen Alltagsleben zu einem zeitlosen, mystischen Jetzt gefördert, sondern eine unerschrockene Begegnung mit der bedingten Welt so, wie sie sich von Moment zu Moment entfaltet.
. . . Und heute? Wie sieht die bedingte Welt von heute aus? Wir haben hohe Gebäude, aber eine niedrige Toleranz, breite Autobahnen, aber enge Ansichten. Wir verbrauchen mehr; aber haben weniger, machen mehr Einkäufe, aber haben weniger Freude. Wir haben größere Häuser, aber kleinere Familien, mehr Bequemlichkeit, aber weniger Zeit, mehr Experten, aber auch mehr Probleme, mehr Medizin, aber weniger Menschlichkeit.
Wir rauchen zu stark, wir trinken zu viel, wir geben verantwortungslos viel aus; wir lachen zu wenig, fahren zu schnell, regen uns zu schnell auf, gehen zu spät schlafen, stehen zu müde auf. Wir lesen zu wenig, sehen zu viel fern, meditieren zu selten. Wir haben unseren Besitz vervielfacht, aber unsere Werte reduziert. Wir reden zu viel, wir lieben zu selten und wir hassen zu oft. Wir wissen, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, aber nicht mehr, wie man lebt. Wir kommen zum Mond, aber nicht mehr an die Tür des Nachbarn. Wir haben den Weltraum erobert, aber nicht den Raum in uns. Wir machen größere Dinge, aber keine Besseren.
Wir können Atome spalten, aber nicht uns von unseren Vorurteilen trennen. Wir studieren mehr, aber wissen weniger, wir planen mehr, aber erreichen weniger. Wir haben gelernt schnell zu sein, aber wir können nicht warten. Es ist die Zeit des schnellen Essens und der schlechten Verdauung, der großen Männer und der kleinkarierten Geister, der leichten Profite und der schwierigen Beziehungen.
Es ist die Zeit des größeren Familieneinkommens und der Scheidungen, der schöneren Häuser und des zerstörten Zuhauses.
Es ist die Zeit der schnellen Reisen und des Übergewichts, der Wegwerfwindeln und der Wegwerfmoral. Es ist die Zeit der Pillen, die alles können: Sie erregen uns, sie beruhigen uns, sie töten uns.
Wenn wir uns einmal die Zeit nehmen und in aller Ruhe überprüfen, wie unser Leben von dieser bedingten Welt beeinflusst wird, werden wir vielleicht erkennen, was wir durch mehr Achtsamkeit ändern können. Wir sind die Welt. Wenn wir bei uns selbst damit beginnen, können wir auch einen Teil der Welt – und sei er noch so klein – verändern. Je größer unsere Empörung über den Zustand dieser Welt ist, desto größer muss auch die Achtsamkeit sein, damit unser Tun mit unseren Idealen übereinstimmt.
Wir haben den Wandel in der Hand – hier und jetzt.